Radfahren und Reformation

Bekannt ist, dass Martin Luther 1510 zusammen mit einem Mitbruder nach Rom reiste, um in einer Angelegenheit des Ordens tätig zu werden. Seine Reiseroute ist weitgehend bekannt. In einer Tischrede wenige Jahre vor seinem Tod deutet sich an, dass die beiden Mönche mit einem Laufrad aus Holz die Reise nach Rom machten. Diese Entdeckung des bekannten Lutherforschers darf als Sensation bezeichnet werden….

Das ist natürlich Quatsch. Als wir mit unseren Rädern am 9.9.2022 in Rom in der Casa Valdese ankamen, lag dort das Buch von Corinna Landi übers Luthers Reise nach Rom im Jahr 1510. Er lief mit einem Ordensbruder den Weg über Augsburg und Ulm zu Fuß. Er nahm nicht den Splügen-Pass, sondern den Septimer-Pass, weiter östlich. Genau wie wir mit unseren Rädern wanderte er das Rheintal bei Grundbünden hoch, kam durch Chur; auf der Alpensüdseite gelante er über Chiavenna zum Comer See, Mailan, dann weiter die Via Emilia nach Piacenza. Den Apenin überquerte er vermutlich auf der Höhe von Bologna, dann folgte er die Via Francenga über Florenz und Siena. Genau wie wir kam er am Bolsena See vorbei, an Viterbo und natürlich La Storta. (An diesem Ort sollte wenige Jahre später ein gewisser Ignatius von Loyola ein Erweckungserlebnis haben, das zur Gründung des Jesuitenordens führte.)

Es ist nicht ganz sicher, in welchem Augustinerkloster der deutsche Klosterbruder in Rom wohnte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit lebte er einige Wochen in dem heute nicht mehr vorhandenen Kloster an der Kirche Santa Maria del Popolo, an der gleichnamigen Piazza. In der Kirche hat er dann die Messe gelesen.

Martin Luther hat das Radfahren nicht erfunden. Aber er hat in der Bibel eine Entdeckung gemacht, die nicht nur für die christliche Glaubensgeschichte grundlegend wurde, sondern auch die europäische Freiheitsgeschichte geprägt hat: die Rechtfertigung des Gottlosen allein durch den Glauben. Sein Kampf für die „Freiheit eines Christenmenschen“ wirkte sich auf die Freiheitsgeschichte aus. Darüber hinaus war Luther mit seiner Bibelübersetzung auch für die Entwicklung der deutschen Sprache so bedeutsam wie Dante für die italienische Sprache.

Nach meiner Rückkehr aus Rom haben mich vor allem katholische Freunde scherzhaft gefragt, ob wir auch eine Audienz beim Papst hatten. Meistens antwortete ich halb im Scherz, dass ich zwar auf dem Petersplatz war, aber Papst Francesco doch im Augenblick mehr als genug mit seiner römische-katholischen Kirche zu tun habe und sicher keine Zeit für ein drei Radler aus Deutschland.

Petersdom und Platz bei Nacht

Auf dem Weg nach Rom war Straßburg ein Etappenziel. Denn die reformatorische Bewegung war nicht zuletzt eine Bewegung der frühbürgerlichen städtischen Gesellschaft. Im 16. Jahrhundert hat sich die Stadt durch die Reformation verändert. Personen wie Pfarrer Martin Bucer, Bürgermeister Jakob Sturm oder Willibrandis Rosenblatt haben in der Stadt nicht nur Schulen gegründet, eine Armenfürsorge aufgebaut oder auch Flüchtlinge aufgenommen. Bis heute ist das Viertel um St. Thomas protestantisch geprägt. In der Kirche spielte u.a. Albert Schweitzer Orgel.

Ich empfand es als großes Glück, dass wir auch beim dritten Etappenziel in Zürich dem reformatorischen Geist begegnen durften. Im Großmünster, in dem zu Beginn des 16. Jahrhunderts Huldrych Zwingli mit seinen Mitstreitern gewirkt hat, trafen wir Pfarrer Christoph Sigrist. Er führte uns in die Sakristei, in der auch schon der Reformator sich umgekleidet hat und zeigte uns eine Zürcher Bibel von 1531.

Die durch die Reformation verstärkte europäische Freiheitsgeschichte wirkt bis heute. Allerdings wissen viele Menschen nicht mehr ihren geistesgeschichtlichen Hintergrund. Freiheit als Befreiung und Verantwortung – so ist meine Wahrnehmung – wird immer weniger verstanden.

Welch hohes Gut die Religionsfreiheit ist, davon wissen die Italienischen Protestanten ein Lied zu singen. In Rom war es im Kirchenstaat bis 1871 verboten evangelische Gotteshäuser zu errichten. Erst als Rom die Hauptstadt des italienischen Königsreiches wurde, durften protestantische Kirchen gebaut und genutzt werden. 1922 war es dann so weit und die Chiesa Evangelica Piazza Cavour konnte eingeweiht werden, errichtet dank einer großzügigen Stiftung einer amerikanischen Millionärin.